Dienstag, 8. September 2015

Nudging - ein sanfter Schubs? Verhaltensökonomie im Kanzleramt

Vor einem Jahr war dies ein ziemlicher Aufreger: In einer Stellungsausschreibung suchte das Bundeskanzleramt nach Psychologen, Anthropologen und Verhaltensökonomen: Die Regierung wolle künftig wirksamer regieren und den Bürgern einen Schubs in die „richtige“ Richtung geben. 
Das Bundeskanzleramt sucht gleich drei Referenten mit tiefen Kenntnissen über Psychologie, Anthropologie und Verhaltensökonomik für den Stab Politische Planung, Grundsatzfragen und Sonderaufgaben - von der BILD wurden die künftigen Stelleninhaber kurzerhand "Psycho-Trainer" getauft.

Es gehe darum, neue Methoden für „wirksames Regieren“ zu erproben. Dafür sollten Erkenntnisse der Verhaltensökonomie stärker genutzt werden.  

Verhaltensökonomik oder Verhaltensökonomie als Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaften beschäftigt sich mit menschlichem Verhalten in wirtschaftlichen Situationen. "Dabei werden Konstellationen untersucht, in denen Menschen im Widerspruch zur Modell-Annahme des Homo oeconomicus, also des rationalen Nutzenmaximierers, agieren".
Mit anderen Worten, viele Menschen handeln und denken in einer Weise, die ihren eigenen Interessen (oder den Interessen der Merkel-Administration?) widerspricht. Konkret sollen diese "Psycho-Trainer" die „Entwicklung alternativer Designs von politischen Vorhaben“ auf Grundlage verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse vorantreiben, heißt es in der Anzeige. 

Den Grundstein dieser Idee einer psychologischen Politikberatung legte das Buch „Nudge“ von Richard Thaler und Cass Sunstein (Harvard Universität) im Jahr 2008. So ein Nudge (engl. für Stups oder Schubs) ist für die Erfinder des Begriffs Richard Thaler und Cass Sunstein eine Methode, um ohne Verbote oder Befehle das Verhalten von Menschen zu beeinflussen. Lässt man die umständlichen Euphemismen beiseite, will die Regierung gibt den Bürgern ihres Landes einen Schubser in die vermeintlich richtige Richtung geben. Um dadurch „wirksamer zu regieren“.



Positive Reaktionen

Die positive Sicht: "Hilfe zur Selbsthilfe...Menschen auf den Weg bringen", ohne die persönliche Entscheidungsfreiheit des Einzelnen manipulativ zu unterlaufen, wie Verhaltensökonom Winfried Neun im Gespräch mit dem ehemaligen n-tv-Moderator Andreas Franik erläutert (durch dieses Interview vom 1.9.2015 wurde ich erst auf diese Thematik aufmerksam):




Die Entscheidung von Bürgern sollen 'verbessert werden', ohne deren Wahlmöglichkeiten durch Zwang oder Restriktionen einzuschränken - zum Beispiel durch steuerliche Anreize. jedoch lässt W.Neun  (möglicherweise unbeabsichtigt) durchklingen, dass der politische Einsatz von Nudging sehr wohl darauf abzielt, "diffuse Ängste" und Widerstände in der Bevölkerung gegen Regierungsvorhaben zu reduzieren. Der Verhaltensökonom führt aus, mit dieser 'sanften' Methode lasse sich die Realisierungsgeschwindigkeit größer Vorhaben (wie beispielsweise die Energiewende samt der Nord-Süd-Trasse zur Stromversorgung) sogar halbieren.

Das klingt schon verdächtig nach psychologischer Trickserei, anstatt sich den (zumindest teilweise berechtigten und sehr wohl begründeten) Sorgen betroffener Bürger zu stellen und diese ggf. in geeigneten Konsultationen auszuräumen.

Kritik: ""Paternalismus light" oder gar "Der Bürger als Pawlowscher Hund"?


Der Verhaltensforscher Iwan P. Pawlow  hatte im Verlauf  seiner Experimente zum Zusammenhang zwischen Speichelfluss und Verdauung beobachtet, dass bei Hunden schon die Schritte des Besitzers Speichelfluss auslösten, obwohl noch gar kein Futter in Sicht war. Er vermutete, dass das Geräusch der Schritte, dem regelmäßig die Fütterung folgte, für die Hunde mit Fressen assoziiert war. Das vorher neutrale Schrittgeräusch werde im Organismus des Hundes mit dem Stimulus „Futter“ in Verbindung gebracht.
Um diese Hypothese zu prüfen, gestaltete er 1905 ein aussagekräftiges Experiment: Auf die Darbietung von Futter, einem unbedingten Reiz, folgt Speichelfluss (unbedingter Reflex -> unbedingte, d.h. vom Hund nicht beeinflussbare Reaktion), auf das Ertönen eines Glockentons (neutraler Reiz) nichts. Wenn nun der Glockenton wiederholt in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Anbieten von Futter erklingt, reagieren die Hunde schließlich auf den Ton allein mit Speichelfluss. Dieses Phänomen bezeichnete Pawlow als Konditionierung.


Dieses Prinzip der 'klassischen Konditionierung' lässt sich vereinfacht so veranschaulichen:



Auf Menschen bzw. komplexes Sozialverhalten lässt sich dieses Prinzip nicht ohne weiteres anwenden - denn im menschlichen Kommunikations- und Entscheidungsverhalten spielen unbedingte Reflexe kaum eine Rolle.
Der Vorwurf "die Regierung will uns zu braven Haushunden degradieren" greift insoweit also nicht. Aber:
Die Lernpsychologie kennt außerdem die sog. instrumentelle und operante Konditionierung, welche  das Erlernen von Reiz-Reaktions-Mustern aus ursprünglich spontanem Verhalten betrifft. 
Die beabsichtigte Häufigkeit eines 'wünschenswerten' Verhaltens kann durch den gezielten Einsatz angenehmer Konsequenzen (Lob, Streicheln, Anerkennung, ein 'Leckerli', aber auch finanzielle Vergünstigungen) nachhaltig verändert werden. Dies funktioniert bei Kindern und Erwachsenen auch, ohne dass diesen die Verhaltensbeeinflussung bewusst wird. Rationales Entscheidungsverhalten ist eine Illusion, wir entscheiden allzuoft spontan und emotional ...'aus dem Bauch heraus'.
Vermutlich gehen die Befürchtungen von Kritikern politischen Nudgings eher in diese Richtung, aber 'der Bürger als armer manipulierter Hund' ist so herrlich plakativ.

In sozialen Medien war sogleich von einer Propaganda-Truppe Merkels die Rede - "Kanzleramt plant psychologische Manipulation der öffentlichen Meinung" lautet der Titel eines kritischen YT-Videobeitrages dazu.
Kritisiert wurde auch die anmaßende Haltung der Regierenden "Wir wissen besser als unsere Bürger, was gut für sie ist", d.h. über die Wünsche seiner Bürger zu befinden und diese mit psychologischen Tricks zu manipulieren. 

Nun versuche ich möglichst, mich nicht gleich vom allgemeinen Wutgeheul erfassen zu lassen oder darin einzustimmen, bevor ich mich überhaupt informiert habe.


Ist es denn wirklich so negativ zu bewerten, wenn "Mutti" ihren Kleinen gelegentlich mit sanftem Nachdruck den richtigen Weg aufzeigt? Na ja, es kommt drauf an - wie immer.

Auf WPedia ist als eingängiges Beispiel ein Nudge-Urinal abgebildet:


Die Visualisierung einer "Fliege" soll notorische Steh-Pinkler dazu motivieren, 
vor einem Urinal wenigstens richtig zu 'zielen“: Man(n) will also die Fliege 'wegpinkeln' und trifft deshalb in und nicht neben das Urinal. Diese Form der sanften Verhaltenssteuerung ist eher kreativ, meine ich. Ob's denn funktioniert (und falls ja - wie oft)? Irgendwann merkt doch jeder, dass die Fliege da bleibt, wo sie ist.
Im politischen Umfeld sind natürlich andere, deutlich weiter reichende Zielsetzungen gegeben. Dabei sollte auch nicht übersehen werden, dass die drei "Psycho-Trainer" sowie die von ihnen entwickelten Designs von Steuergeldern finanziert werden. Diesen Umstand erachte ich dann doch als bedenklich: Die Bürger zahlen die Gehälter eben jener Experten, von denen sie künftig gelenkt (oder ggf. manipuliert) werden sollen.  
Die Autoren des erwähnten YT-Videos gehen davon aus, "dieses in den USA entwickelte Verfahren zur Manipulation der öffentlichen Meinung soll jetzt auch in Deutschland mit Hilfe der Medien und des Fernsehens einen Meinungsumschwung hin zur Zustimmung von TTIP bewirken".

Obwohl ich TTIP anhand des wenigen, das wir bis heute darüber wissen (dürfen), als ausgesprochen risikobehaftet betrachte, erscheint mir diese Annahme doch zu weit hergeholt. Den Regierenden per se das Schlimmste aus allen denkbaren Absichten zu unterstellen, bringt uns ebenso wenig weiter wie vorbehaltsloses, blindes Vertrauen. Nicht "Lügenpresse" kreischen und dumpfes Misstrauen schieben - sondern: Aufmerksames Beobachten aus einer kritischen Distanz hat Vorrang. 

Außerdem: wie sollte eine solche Manipulation zugunsten TTIP wirksam werden, nachdem dermaßen verspätet  damit begonnen wurde? Im 4. Quartal 2014 hatten sich viele längst eine Meinung zu TTIP gebildet.
Die Öffentlichkeit in Deutschland ist - soweit sie sich überhaupt für "so etwas" interessiert - längst sensibilisiert für das geplante Handelsabkommen TTIP (wohingegen die Auseinandersetzung mit dem Dienstleistungs-Abkommen TiSA noch zu wünschen übrig lässt). Und jeder weitere Tag fortschreitender Geheimhaltung verschärft diese kritisch-ablehnende Haltung noch.
Die Auswirkungen der Arbeit von Merkels Nudging-Abteilung werden eher langfristig zu beobachten sein. Darauf sollten wir durchaus ein Auge haben: 

  • Läuft das Vorhaben "wirksamer regieren" mit sanfter Lenkung transparent ab ...etwa so, wie von Herrn Altmaier im Beitrag "Mit Nudging zur Energiewende?" beschrieben, also durch gezielte, aber offensichtliche Anreize?
  • Oder findet eine schwer nachvollziehbare, weil in-transparente Manipulation statt? Falls dem so ist, sollten die konkreten Vorfälle benannt und mit geeigneten demokratischen bzw. rechtsstaatlichen Mitteln abgestellt werden.

Siehe auch: 

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