Montag, 28. Mai 2012

Ulzhan - Das vergessene Licht (Filmtipp)


Der Filmregisseur
Volker Schlöndorff ist mir durch die ‘Blechtrommel’ und seine Proust-Verfilmung ‘Un amour de Swann’ in Erinnerung. ‘Ulzhan - Das vergessene Licht’, eine melancholisch-nachdenkliche Liebesgeschichte aus dem Jahr 2007 ist mir erst heute in die Hände gefallen. Die Handlung wird hier in wenigen Worten umrissen, doch dabei bleibt vieles ungesagt, was sich eben nur in Bildern und musikalisch ausdrücken lässt, etwa durch “intensive Landschaftsaufnahmen” voller Kontraste. Der Film beginnt mit gesprochenen Worten aus einem Buch des kasachischen Poeten und Philosophen Abai Kunanbaev 1):

"…du Licht meines Auges. Du Leben meines Herzens. Unsäglich sind die Qualen der Liebe.”

Charles S. (Philippe Torreton) ist ein gezeichneter Mann, der offenbar seine Familie verloren hat. Er entflieht menschlicher Nähe und vermeidet es, überhaupt etwas von anderen anzunehmen. Wer dem naturverbundenen, etwas heruntergekommen wirkenden Fußgänger Hilfe anbietet, erntet meist schroffe Ablehnung. Mit einem Wodka-Besäufnis und unverbindlichen Begegnungen in einer kasachischen Nachtbar hat er dagegen kein Problem – eine schützende Distanz wird gewahrt.


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Nachdem er wie ein Landstreicher aufgegriffen und vernommen wurde, muss Charles zur Kenntnis nehmen, dass Kasachstan lange kein ‘Land ohne Städte und Dörfer’ mehr ist, auf dem nur vereinzelte Nomadenklans die endlose Steppe bereisen. Doch unter Menschen fühlt er sich sichtlich unwohl und flieht erneut in die Einsamkeit. Er wirkt auf mich wie einer, der entschieden hat, nie wieder verletzt zu werden. Doch wo findet man diese ‘Zuversicht’ außer im Tod?

Eines Tages begegnet er dem skurril-geheimnisvollen Schamanen namens Shakuni, der mit seltenen, kostbaren Worten handelt (‘Ich sammle hier und da Wörter, und biete sie denen, die sie brauchen’) und ihm die Empfehlung mit auf den Weg gibt, ein Pferd für seine weitere Reise zu kaufen – aber ein altes, dann sei das Bedauern nicht so groß, wenn es stirbt. In einem Dorf begegnet er der jungen Lehrerin Ulzhan (Ayanat Ksenbai), die mit ihrer Großmutter das Leben von Halbnomaden führt. Von ihr kauft er ein Pferd und verrät das Ziel seiner Reise - der heilige Berg Khan Tengri. Die alte Frau reagiert betroffen, denn dorthin zogen sich hat sich einst die Schamanen in Ruhe zum Sterben zurück.


Tags darauf heftet sich die junge Frau ungefragt und ungebeten an Charles’ Fersen und folgt ihm in einiger Entfernung durch die karge Steppe. Er bittet sie, ihn zu verlassen. Er habe eine Mission vor sich; und sie dürfe ihre Leute nicht im Stich lassen. Die einfühlsame Frau ist anderer Ansicht, beugt sich aber scheinbar seinem Wunsch. Zufällig trifft Charles erneut auf Shakuni, den Schamanen und Wortehändler – und einzigen Menschen, vor dem er nicht gleich davonläuft. Ein Flüchtiger laufe nicht notwendigerweise vor etwas davon.
Gedanken vor dem Einschlafen.  
Schakuni - Du kannst ruhig schlafen, dies ist heiliger Boden. Kirche, Tempel, Moschee..man schläft auf jeden Fall immer neben den Toten. 
Charles - Der Regen hat aufgehört. Morgen fahren wir los. Wir freuen uns auf dich. Ein schmerzvoller Blick auf das zerknitterte Postkarte mit dem Bild einer lächelnden Frau und zweier Mädchen, vielleicht sieben und neun.

Ein Sandsturm. Charles hat zwar vieles von der Welt gesehen, doch diese unbändige Seite der Natur überfordert ihn. Bei dem Versuch, seine Trinkwasser zu retten, flieht das Pferd. Er legt sich nieder – Zeit zum Sterben? Doch Ulzhan ist nicht heim zur Großmutter und ihren Schülern geritten. Sie findet das verloren geglaubte Pferd und kehrt zu ihm zurück. Wie rettet man das Leben von einem, der nicht mehr leben will? Der nicht glaubt, für die Welt noch irgendeinen Wert zu besitzen? Reichen Liebe und Beharrlichkeit aus? Für Minuten gelingt es der schönen Asiatin, den Mann aus seiner Lethargie zu reißen. Neugierde und sogar der Anflug eines Lächelns. Doch dann hüllt sie ihn wieder ein, die übermächtige Schwärze der Wirklichkeit. Bevor die Nacht zuende ist, bricht er leise auf, zu Fuß.
Noch gibt Ulzhan nicht auf. Charles erzählt ihr von einer Schatzsuche, die ihn in diese Region führe. Er berichtet ihr von den Nestorianern, persischen Christen, die wenige Jahrhunderte n.Chr. mitsamt ihrem Kirchenschatz in Richtung China geflohen seien. ‘Träger des Lichts’ sei der Name, den sie sich selbst gaben. Die Überlebenden einer Splittergruppe hätten ihren Schatz, das Licht, am Khan Tengri am Fuße des Khan Tengri vergraben. Kein Goldschatz, sondern sind alte Sanskrit-Texte sind es, nach denen er angeblich sucht. Erstmals dankt er ihr und erwartet wohl, dass sich nun abzieht. Fehlanzeige. Schakuni schließt sich den beiden ebenfalls eine Weile an und bereichert den Tag mit Hinweisen auf Elemente der östlichen Mythologie. Es sind keine blühenden Landschaften, durch sie nun reiten, sondern Metaphern der Verlorenheit. Als Charles ohne zu zögern in ein gesperrtes, verseuchtes Atomtestgebiet reitet, realisiert Ulzhan dessen wahre Absicht. Seine Beweggründe versteht sie, ohne sie zu akzeptieren. Nicht einmal das Risiko radioaktiver Verstrahlung hält sie davon ab, ihn weiter zu begleiten.

vlcsnap-2012-05-27-02h13m18s51Im Gebirge angekommen, bittet Charles seine Begleiterin ein letztes Mal darum, ihn endgültig allein zu lassen. Er bleibt im Schnee liegend zurück.
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Ich bin allein. Unendlicher Schmerz zerfrisst wie Feuer meine Brust. Hört, ich muss es sagen, Herr, wird der Tag kommen, an dem mein Herz Ruhe findet?
Ruhe muß nicht den Tod bedeuten. Auch stirbt man nicht einfach so vor sich hin, selbst wenn man in winterlicher Kleidung frierend im Schnee liegt und Todessehnsüchte verspürt. Zuletzt fällt sein Blick auf Ulzhans Lieblingspferd, das sie in einer vagen Hoffnung an einen nahegelegenen Felsen gebunden hat, bevor sie allein den Weg zurück nahm.
Schlöndorff selbst charakterisiert seinen Film treffend: 

Es ist ein sehr lyrischer Film, eine Liebesgeschichte fast ohne Worte. Zur Abwechslung mal keine Literatur, keine Politik, auch keine Vergangenheitsbewältigung, sondern reine Kür, eine Hymne auf das Leben.

Anmerkungen:

  1) Abai (Ibrahim) Qunanbajuly  (1845-1904), russisch Абай Кунанбаев/Abai Kunanbajew; war ein kasachischer Dichter, Schriftsteller und Denker, der offenbar nicht nur die Literatur, sondern auch die kulturelle Entwicklung seines Landes entscheidend mitgeprägt hat. Er übersetzte etliche Klassiker der Weltliteratur ins Kasachische und sorgte für die Eröffnung neuer Schulen, um dieses Erbe der Weltkultur breiten Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Im modernen Kasachstan ist gilt er als nationale Symbolfigur; seine Werke wurden in über 60 Sprachen übersetzt.